Freiheit lebt von der Möglichkeit der Abweichung von der Norm
In seinen eigenen vier Wänden darf der Bürger fast alles machen. Er darf auf die Regierung und die Opposition schimpfen, er darf den Austritt aus der Nato fordern und die amerikanische Nahost-Politik kritisieren, und er darf über die Frisuren von Bundeskanzlern sagen, was er denkt. Doch er soll ein schlechtes Gewissen haben, wenn er das Kinder- und vielleicht bald ein Betreuungsgeld so umschichtet, dass er sich eine Flasche Wein zusätzlich leistet. Er darf (bald) seine Firma nicht mehr an ausländische Investoren verkaufen, wenn die auf einer Liste strategisch wichtiger Unternehmen steht. Und er darf in seinen Zimmern nicht mehr zur Zigarette greifen und greifen lassen, wenn er draußen ein Schild aufgehängt hat, es handele sich um ein Restaurant. Der Geist der Gängelung geht um und erfasst – wie vieles – den persönlichen Alltag und das Geschäftsleben, Privates und Öffentliches.
.Alles hängt mit allem zusammen. Edmund Stoiber, bayerischer Ministerpräsident, möge sich deshalb nicht wundern, dass Familienministerin Ursula von der Leyen sich, wie er findet, mit ihren Vorschlägen zum Betreuungsgeld (Gutscheine für Kindermalkurse statt Betreuungsgeld) in die Familienerziehung einmischen und Eltern bevormunden will. Der von Stoiber selbst eingeführte Begriff «Betreuungsgeld» signalisiert symptomatisch, worum es geht: Der Staat bezahlt Eltern für deren Erziehungsleistung. Auch bei anderen Subventionstatbeständen macht der Staat den Empfängern Vorschriften für deren Verwendung: Wer zahlt, bestimmt die Musik.
.Die Überlegungen, elterliche Leistungen zu finanzieren und darüber öffentlichen Einfluss nehmen zu wollen, entsprechen einem Trend in der Politik und der sonstigen «öffentlichen Meinung», das private Verhalten der Bürger reglementieren zu wollen. Immer natürlich mit dem Willen, nur das Beste zu wollen – ganz wie früher die Tante, die warme Socken statt Schokolade schenkte.
.Eltern sollen das Betreuungsgeld für Sprachkurse der Kinder verwenden, statt es für nutzloses Zeugs auszugeben. Leistungssportler bekommen vorgeschrieben, wo die Grenze zwischen erlaubter Medizin und unerlaubtem Doping zu verlaufen hat. Sie sollen öffentlich geächtet und wahrscheinlich auch in Deutschland bald von Staatsanwaltschaften drangsaliert werden – ganz so, als ginge es den Staat etwas an, welche Regeln sich die Privaten beim Umgang untereinander geben.
.Seit das Fernsehen dabei als Sponsor auftritt, holt es sich seine Rolle als Einrichtung zur Volkserziehung zurück. Wie die Familien-, Verbraucher- und Gesundheitsminister über die Familien wachen wollen, damit Kinder nicht dick werden, dafür aber die deutsche Sprache beherrschen, so wacht das Fernsehen als verlängerter Arm der öffentlichen Meinung neuerdings über Anstand und Sauberkeit im Sport – ausgenommen natürlich beim Fußball, in den die televisionäre Erziehungsinstanz nicht ganz zufälligerweise noch mehr Geld investiert als in den Radsport. Die Leute, die sich trotzdem das Recht nehmen, an den Straßen zu stehen und sich zu freuen, gelten von nun an als Objekte der Umerziehung.
.Nirgendwo aber haben sich Staat, Gesundheitsverbände und Erziehungsbevollmächtigte so durchgesetzt wie im Kampf gegen die öffentliche Zigarette. Wie noch nie nach dem Zweiten Weltkrieg (im freien Teil Deutschlands) greifen sie, die Landtage und der Bundestag mit den Rauchverbotsgesetzen in die privaten Gewohnheiten der Bürger ein. Die meisten Leute merken es noch nicht: In vielen Ländern sind die Gesetze noch nicht in Kraft getreten; für die Bußgeldbescheide gibt es Übergangsregelungen; und bei Sonne kann man auch im Biergarten rauchen. Doch bald ist es dunkel und kalt. Dann werden die Spitzel, mindestens aber die Ordnungshüter kommen.
.Silvester, spätestens im nächsten Karneval oder beim Schützenfest herrscht – demokratisch legitimiert – der Staat in die Wirtshäuser, Kneipen, Bars und sogar Vereinshäuser hinein. Dann werden die Besitzer der Kleingastronomie den lustigen Gästen zurufen müssen, sie mögen bitte das Gesetz einhalten, sonst müssten sie Bußgeld zahlen. Die werden dann – überaus gern natürlich – nach draußen gehen und ihre Abgeordneten und übergewichtige Vorsitzende von Gesundheitseinrichtungen hochleben lassen. Große Lokale (das Hofbräuhaus in München zum Beispiel) können sich freikaufen und abgeschlossene Raucherzimmer einrichten. Im Stile bayerischer Wirtschaftsförderung gelang es Stoiber, die Bierzelte von staatlicher Verbotspolitik auszunehmen, was der Ministerpräsident Wulff aus Niedersachsen – auch der sonntags gern ein Freund der Freiheit – schon nicht mehr wollte.
Die einen reden sich raus, sie seien zu besseren Einsichten gekommen, die anderen sagen, der «Druck» der Basis sei so groß, dass sie nicht anders gekonnt hätten, als streng zu werden. Und die Gesetze wurden ja tatsächlich stets mit großen Mehrheiten beschlossen, was wieder einmal die historische Erfahrung bestätigt, Einstimmigkeit in Politik und Gesellschaft sei keine Garantie für Freiheit – nicht einmal im angeblich unregierbaren Italien. Das Gegenteil ist richtig: Freiheit lebt von der Möglichkeit der Abweichung von der Norm.
Der Staat aber, angetrieben von Gesundheits- und Sozialtherapeuten, tritt in eine Rolle als Gouvernante bislang freier Menschen. Die Erfolge werden sie beflügeln. Sie werden neue Felder suchen: Kleiderordnungen in Badeanstalten, Ernährungsgewohnheiten zu Hause, perfektionistische Steuerkontrollen überall. Die Gutmenschen im Kabinett tun so, als habe das mit Freiheit nichts zu tun. Sie irren.
.Es entwickelt sich ein Fundamentalismus mit menschlichem Antlitz. Immerhin.
.Text: F.A.Z., 18.08.2007, Nr. 191 / Seite 1
Leitartikel von Günter Bannas
Ein Protest-Song der «Wohnraumhelden» gegen das Rauchverbot und die Regierung
mit Christof Stein-Schneider, Mitglied von «Fury in the Slaughterhouse»
«In seinen eigenen vier Wänden darf der Bürger fast alles machen. Er darf auf die Regierung und die Opposition schimpfen, er darf den Austritt aus der Nato fordern und die amerikanische Nahost-Politik kritisieren, und er darf über die Frisuren von Bundeskanzlern sagen, was er denkt»
Aber nur solange die Aussagen «politisch korrekt» sind und solange MeinungsÄUSSERUNGSfreiheit herrscht.