Sozialdarwinismus in der Schweiz.

Alles ist zumutbar, wenn es nicht gerade tödlich ist.

Unzumutbar

Zuerst wurden die Verwaltungsangestellten des Bundes in die Invaliden-Versicherung ausgelagert. Das hernach fehlende Geld für Arbeitnehmende aus der Privatwirtschaft hatten die später hinzukommenden, betroffenen  Untertanen aus der Privatwirtschaft für die bevorzugte Bundesaktion seiner «geschlissenen» oder zermürbten Angestellten über Lohnabzüge, insbesondere aber ab 2000 mit unzähligen, stetig sinkenden Leistungen seitens der Volksversicherung zu bezahlen. Sie ist der Alters- und Hinterlassenen-Versicherung (AHV) angegliedert; genauer gesagt, sie war es. Aufgrund des Finanzierungsdrains, der Schuldenbremse und der steigenden Anzahl überarbeiteter Mitarbeiter aus der Privatwirtschaft – Dank dieses Husarenstreichs des Bundes – hatten die Nationalräte beschlossen, die IV von der AHV zu trennen, da sonst die AHV mit in den Abgrund gerissen worden wäre, so die zumindest wenig glaubhafte Begründung. Die neu hinzugekommenen Invaliden haben es insbesondere der SVP zu verdanken, die seitdem eine Revision nach der andren lancierte, um die Lohnabzugsprämien zu mindern, sowie die damals noch falsch berechnete Schuldenbremse, mitten in der Rezession der 1990er Jahre auf Kosten der Kranken zu «sanieren». Die Lohnabzugskosten betrugen 0.80-1.20 Franken monatlich, je nach Geschlecht von Mann oder Frau. Der Genderismus ist erst noch im kommen.

Wir alle zahlen Schutzgeldzahlungen; doch wir werden nicht geschützt!

Ende der 1980er Jahre hatte der Bund alle seine «faulen Eier» in die IV entsorgt und diese Institution somit finanziell übermäßig stark belastet. Durch die besonderen Privilegien der Staatsangestellten, bspw. in Sachen Kündigungsfrist und andrer Fringe-Benefits, sammelte sich eine «Riesenmeute» an, der IV zuzuführenden, ausgebrannten oder wenig belastungsfähigen Angestellten an, die in Massen angesammelt, fast alle gleichzeitig die IV beanspruchten. Ausbaden dürfen es seitdem die die arbeitsunfähigen Angestellten aus der Privatwirtschaft. Angeschlagene Menschen sollen ein weiteres, 5. Mal, unter Druck gesetzt werden – ein Blick in die Botschaft zur 5. IV-Revision weckt das kalte Grauen.

Human Recycling

Arbeit macht krank. Dass der Druck am Arbeitsplatz immer größer wird, ist nicht nur ein subjektiver Eindruck vieler Erwerbstätiger. Auch Menschen, die die Arbeitswelt wissenschaftlich erforschen, kommen zum gleichen Schluss. Martin Hafen, Dozent für Prävention und Gesundheit an der Hochschule für Soziale Arbeit in Luzern, erwähnt in einem Interview mit der Initiative Grundeinkommen das große Problem: Es gibt während der Arbeit – die einen großen Teil der Lebenszeit ausmacht – kaum mehr Zeit für informelle Kontakte. Keine Zeit mehr für einen Schwatz mit Kollegen, richtige Pausen, für Gespräche, die nicht Arbeitsgespräche sind. Das mache krank, sagt Hafen: «Die Leute fallen aus dem Arbeitsprozess raus, weil sie mit dem Druck nicht mehr zurande kommen und keine Dämpfungsmöglichkeiten in Form von informellen sozialen Kontakten mehr haben.» Viele Erwerbstätige landen deshalb früher oder später bei der IV. Das ist traurig und absurd, denn sie könnten durchaus arbeiten – wenn die Arbeitswelt nicht «anti­humanistisch» wäre, wie es Martin Hafen nennt. Jetzt kommt die 5. IV-Revision. Sie hat das erklärte Ziel, die Zahl der Neurenten drastisch zu senken. Wie sollen diese Menschen, die den Druck nicht mehr aushalten, wieder arbeitstüchtig werden? Die IV verspricht ein interessantes Mittel: mehr Druck.

Das Angebot ist schuld

Dabei machen sich die IV-Reformer zunutze, dass Erwerbsarbeit trotz allen Leidens für die meisten Menschen immer noch das ist, was dem Leben einen Sinn gibt. Noch mehr Angst als vor dem Arbeitsdruck haben wir davor, keine Arbeit zu haben. «Arbeit statt Fürsorge», das tönt doch gut. Wäre es wohl auch, wenn es noch Arbeit gäbe, die nicht nur flexible, junge, kinderlose, kerngesunde Selbstoptimierer ­leis­ten können. Und wenn die IV-Revision die Firmen verpflichten würde, auch Alte, Angeschlagene und Amputierte anzustellen. Das tut sie aber nicht.

Die Botschaft zur 5. IV-Revision erwähnt zwar kurz, dass die starke Zunahme von psychischen Erkrankungen etwas mit «Veränderungen in der Arbeitswelt, unter anderem Beschleunigung und Verdichtung der Arbeit», zu tun haben könnte. Doch dazu gebe es «wenig erhärtete Daten» (es wäre nicht schwierig, solche zu bekommen), und anschließend relativiert der Text das Problem gleich wieder: Ärzte und Versicherte «reagieren auf psychische und soziale Faktoren ihres Umfeldes mit größerer Sensibilität als früher». Psychische Erkrankungen seien «kein Tabuthema mehr. Folgerichtig wirkt heute eine Invalidität aus psychischen Gründen weniger stigmatisierend als früher» (fragen Sie einmal eine Frau mit Psychiatrie-Vergangenheit, die eine Stelle sucht …) Außerdem habe die Zahl der PsychiaterInnen mit eigener Praxis stark zugenommen – «die Nachfrage wird deshalb durch das Angebot (mit-)bestimmt». Psychische Probleme haben also gar nicht zugenommen, sie werden nur häufiger behandelt als früher – oder sogar durch das bessere Behandlungsangebot künstlich hervorgerufen, ist das Fazit. So wird das Problem elegant aus der Welt geschafft.

Möglichst viele Menschen sollen wieder arbeitsfähig gemacht werden. Darum verschärft die 5. IV-Revision den Zumutbarkeitsbegriff. Das tönt dann so: «Artikel 21 Absatz 4 ATSG bestimmt sodann, dass Behandlungs- und Eingliederungsmaßnahmen, welche eine Gefahr für Leben und Gesundheit darstellen, unzumutbar sind. Innerhalb dieses Rahmens soll nun aber neu festgehalten werden, dass prinzipiell jede Maßnahme, welche der Eingliederung der versicherten Person ins Erwerbsleben oder in einen Aufgabenbereich dient, zumutbar ist.» Alles ist zumutbar, wenn es nicht gerade tödlich ist.

Der folgende Satz löst kaltes Grauen aus: «Anderseits ist das Zumutbarkeitsprinzip auch anzuwenden bei der Beurteilung der Frage, wie die Restarbeitsfähigkeit einer versicherten Person auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt noch verwertet werden kann.» Diese grausame Sprache weist weit über das konkrete Geschäft der IV-Revision hinaus. Sie zeigt, wo wir uns heute befinden: Die Zeit des sozialstaatlich abgefederten Kapitalismus ist endgültig vorbei. Wir sind auf dem Weg zurück in den rohen Kapitalismus der Frühindustrialisierung. Wer sich nicht verwerten lässt, ist nichts wert (auf Lateinisch heißt das invalid).

Objektiv tut’s nicht weh

Eine IV-Rente soll künftig nur noch bekommen, wer wegen eines Gesundheitsschadens nicht mehr arbeiten kann. Sogenannte invaliditätsferne Gründe wie Suchtprobleme, soziale Situation, Alter oder schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt werden nicht mehr berücksichtigt. Leute, die aus solchen Gründen aus der IV rausfallen, werden aber keine Jobs finden. Sucht, Armut, Ausgrenzung machen krank, es gibt genug Studien darüber. Diese Leute werden sich wohl einfach so lange durch irgendwelche Beschäftigungsprogramme quälen, bis sie auch «objektiv» körperlich krank sind.

Zynismus pur

«Subjektiv» und «objektiv» sind zentrale Begriffe in der Botschaft zur IV-Revision: «Neu wird ausdrücklich festgehalten, dass das subjektive Empfinden der versicherten Person bei der Beurteilung der Zumutbarkeit, eine Arbeitsleistung zu erbringen und damit ein Erwerbseinkommen zu erzielen, in Zukunft nicht mehr maßgebend ist. Entscheidend ist, ob dieser Person aus objektiver Sicht zugemutet werden kann, trotz der subjektiv erlebten gesundheitlichen Probleme (z.B. Schmerzen) einer Arbeit nachzugehen.» Eine Schmerzpatientin, der «objektiv» nichts fehlt, soll, wenn nötig schreiend vor Schmerzen, zu einer Arbeit geprügelt werden. Oder ein Depressiver: Was ist denn sein Problem, «objektiv» gesehen? Er hat doch alles, was er zum Leben braucht! – Zynismus pur!

Glaubt denn wirklich irgend jemand, so würden Menschen geheilt oder ihre Arbeitsfähigkeit könne somit verbessert oder gar gesteigert werden? Werden Menschen, die so behandelt werden, langfristig eingliederungsfähig sein? Wohl kaum. Stress ist der Auslöser Nummer 1 in Bezug auf Krankheitsauslöser. Noch mehr Stress macht die Betroffenen nur noch kränker und treibt die Krankenkassenprämien weiter in exorbitante Höhen. Unter diesen Bedingungen sinkt ihre «Restarbeitsfähigkeit» wohl ziemlich schnell gegen null. Wenn aber die Eingliederung nicht funktioniert, was sie selten bei krankheitsbedingter Invalidität tut,  geht auch das mit dem phantasierten Sparen in die Hosen. Kurzfristig ist zwar das IV-Budget kurzzeitig geschönt, aber die Kosten werden zur Sozialhilfe und zu den Ergänzungsleistungen verlagert. Mittelfristig werden viele, die aus der IV fallen, so krank werden, dass sie dann entweder doch wieder bei ihr landen; oder frühzeitig sterben – was natürlich auch eine sozialdarwinistische Variante der Problemlösung wäre.  In den Niederlanden hat diese Entwicklung bereits stattgefunden (siehe früheren Text von Kurt Wyss von heute).

Der Scheininvalidenverdacht ist die Basis der 5. IV-Revision.

Die jahrelange Entsolidarisierungsarbeit der Rechten ist endgültig auf der Gesetzesebene angekommen. Wer genau das, was die Leute krank macht, als Heilmittel propagiert, sagt nichts anderes als: Die sind gar nicht krank. Die tun nur so. Mit etwas Härte kommen sie schon wieder zur Vernunft. Darauf gibt es nur eine vernünftige Antwort: Ein Nein zur 5. IV-Revision am 17. Juni!

[Grundlage: Artikel von Bettina Dyttrich]

10 Jahre später

Invalidenversicherung für Selbständige

Carolus Magnus

Freidenker, Rebell und Nonkonformist schreibt provokativ, konzis, unkonventionell und unmißverständlich über/gegen das grassierende, genußfeindliche, puritanische Weltbild in unserer Gesellschaft. Stilmittel: Satire, Provokation, Humor, Karikatur und knallharte Facts. Ein MultiMediaMagazin für Jeden.

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