Selbstbestimmungs-Initiative SBI – Dem Volk die Stimme zurück!

Marcel Niggli

Professor Freigeist

Marcel Niggli ist einer der eigenständigsten Schweizer Rechtsgelehrten. Für ihn verfolgt die Selbstbestim-mungsinitiative urliberale Anliegen. – Von der Verklärung des Völkerrechts hält er nichts.

07.11.2018 Von Katharina Fontana in Weltwoche 45/2018

Der Bundesrat ist dagegen. Das Parlament ist dagegen. Die Economie Suisse ist dagegen. Und es gibt wohl kaum eine Nichtregierungsorganisation, die nicht auch dagegen ist. Rabenschwarz sähe es in der Schweiz aus, sollten Volk und Stände am 25. November JA sagen zur Selbstbestimmungsinitiative (SBI) der SVP, warnt die vereinigte Gegnerschaft und verbreitet seit Monaten Alarmstimmung. Unterstützung kommt von den Rechtsprofessoren, für welche die SBI eine juristische Widerwärtigkeit zu sein scheint, die man nicht einmal mit spitzen Fingern anfassen will.

Kaum ein Professor wagt es, aus der Reihe zu tanzen – sieht man einmal vom Zürcher Ordinarius und SVP-Nationalrat Hans-Ueli Vogt ab, aus dessen Feder die SBI stammt. Namentlich bei den Staatsrechtlern herrscht heutzutage ein ausgeprägter Korpsgeist, der von allen Mitgliedern eine klare Linie fordert und Querdenkern das Leben schwermacht. So erstaunt es nicht, dass es ein Strafrechtsprofessor ist, der sich der Meinungseinfalt zur SBI widersetzt und sich den Luxus einer eigenen Position erlaubt. Marcel Niggli, seit 2001 Ordinarius für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Freiburg, sagt das, was mancher andere denkt, aber nicht zu sagen wagt. Der 58-Jährige ärgert sich über die gegnerische Kampagne und die ideologische Borniertheit, mit der sie daherkommt, wie er bei unserem Gespräch im Freiburger Strafrechtsinstitut erklärt. «Die Befürworter werden als hinterwäldlerische Verfassungsnostalgiker dargestellt, während die Gegner als weltoffen-intelligente Menschen gelten. Je mehr ich sehe, wie hier mobilisiert wird, umso stärker wird meine Zustimmung zur Initiative. Und ich kenne viele Menschen, denen geht es wie mir.»

Niggli, der vor seinem Wechsel nach Freiburg in Zürich studiert und gearbeitet hat, gehört keiner Partei an und fühlt sich keiner zugeneigt. Wenn man ihn frage, so sage er einfach, was er meine, erzählt der temperamentvolle Professor, der im Gespräch auch gerne mal zu kräftigen Ausdrücken greift und von politischer Korrektheit nicht viel zu halten scheint. Und was meint er zu den Argumenten, mit denen auf die Initiative geschossen wird? Dass sie Verwirrung schaffe, die Menschenrechte gefährde und den Wirtschaftsstandort aufs Spiel setze? Nichts davon leuchte ihm wirklich ein. «Was ich bisher von den Gegnern gehört habe, halte ich für vorgeschoben.»

Entmachtung der Verwaltung

Niggli beurteilt die SBI als vernünftige Lösung: Die Verfassung geht dem (nicht zwingenden) Völkerrecht vor, Bund und Kantone gehen keine verfassungswidrigen Verpflichtungen ein, Konflikte zwischen Völkerrecht und Verfassung werden zugunsten Letzterer gelöst. Und zudem sollen Völkerrechtsverträge (ebenso wie Bundesgesetze) für die Gerichte maßgebend sein, sofern sie dem Referendum unterstanden haben. Was laut Justizministerin Simonetta Sommaruga ein «gefährliches Experiment» ist, sorgt nach Ansicht von Niggli für mehr Klarheit im Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht. «Natürlich löst die Initiative nicht alle Probleme, doch sie zeigt, dass heute etwas nicht stimmt. Was soll eine Verfassung, wenn sie nicht wichtig ist, wenn es darauf ankommt? Warum macht man vor einer Abstimmung ein Riesenbrimborium, wenn man das Resultat später dann doch nicht umsetzt?»

Dem Volk die Stimme zurück!

Auch das von den Gegnern verbreitete Horrorszenario, nach dem die Schweiz reihenweise internationale Abkommen kündigen müsste, beeindruckt Niggli nicht. Man werde bei einer Annahme der SBI weiterhin pragmatische Lösungen finden können, ist er überzeugt. Vielleicht müsste das Personenfreizügigkeitsabkommen gekündigt werden, da es mit dem Zuwanderungsartikel kaum in Einklang zu bringen sei. Doch wenn das Volk zu einer Vorlage JA sage, im Wissen um den möglichen Konflikt mit dem internationalen Recht, dann sei das zu respektieren. «Zudem verhindert die SBI, dass der Bundesrat – anders als heute – in Eigenregie eventuell verfassungswidrige Staatsverträge abschließt, etwa Freihandels- oder Doppelbesteuerungsabkommen. Denn solche Verträge können künftig neu vor Gericht angefochten werden, wenn sie verfassungswidrig sind. Ich glaube, das ist denn auch der wahre Grund, warum man in Bundesbern derart Angst vor der Initiative hat: Die Verwaltung würde sehr viel Macht verlieren.»

UNO-Migrationspakt

Welch große Gestaltungsfreiheit die Funktionäre heute haben, zeigt beispielhaft der umstrittene, durch Diplomaten erarbeitete Uno-Migrationspakt. Dass es für einen Beamten erfüllend ist, kreativ tätig zu sein und das Recht mit seinesgleichen fortzuentwickeln, ist verständlich. Nur: Ist dies auch im Sinne des Landes? Verträgt es sich mit den schweizerischen Institutionen? Zwar wird von der Verwaltung nun eilig versichert, dass der Uno-Pakt völlig unverbindlich sei, ja eigentlich gar kein Recht darstelle. Eine Sicht, die Niggli nicht teilt: «Alles, was gilt, hat eine Bedeutung. Und was im Migrationspakt steht, geht nüchtern betrachtet ziemlich weit.» Überhaupt steht der Freiburger Professor der Verklärung des Völkerrechts skeptisch gegenüber. «Das Völkerrecht wird von Beamten und Regierungen gemacht, die ihre eigenen Interessen im Auge haben. Es sind Funktionäre in irgendeiner Arbeitsgruppe, die miteinander internationale Weisungen ausarbeiten – das ist völlig undemokratisch. Die Öffentlichkeit weiß nicht, wer in dieser Gruppe vertreten ist. Niemand trägt Verantwortung, niemand zeigt sein Gesicht.»

Kommen wir zum Totschlagargument, das gegen die SBI angeführt wird: die Menschenrechte.

Frage an Marcel Niggli: «Muss man sich schämen, wenn man an der Urne ein Ja zur SBI einlegt? Wird man menschenrechtlich zum Unhold?»

Nein, meint der Professor, dem man als Verfasser des bekanntesten Schweizer Kommentars zur Rassendiskriminierungs-Strafnorm eine gewisse Autorität auf diesem Gebiet nicht absprechen kann, die Schweiz sei schon vor dem Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) kein Unrechtsstaat gewesen. «Und sie würde die Grundrechte auch dann garantieren, wenn wir nicht mehr bei der EMRK dabei wären. Die Verfassung, das wird gerne vergessen, bietet weit mehr Schutz als die EMRK

Niggli hält denn auch nichts davon, die Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs zu idealisieren und als unverzichtbar für die Menschenrechtsentwicklung in der Schweiz darzustellen. «Im Strafrecht beispielsweise haben die Urteile nicht nur Positives gebracht. So mussten die Kantone neu die Institution des separaten Haftrichters schaffen. Das hatte zur Folge, dass in der Praxis heute nicht weniger, sondern mehr Untersuchungshaft angeordnet wird.»

Das Szenario, dass die Schweiz bei Annahme der SBI der EMRK adieu sagen müsste und zum Outlaw unter den europäischen Staaten würde, hält Niggli ohnehin für unglaubwürdig. Man müsse die EMRK wegen einer Rüge doch nicht kündigen, sondern könne ein Problem auch einmal aussitzen. Auch mag er nicht in den Chor derjenigen einstimmen, die den Strassburger Gerichtshof als Rat der Weisen ansehen. «Der Gerichtshof besteht aus Leuten, die auf wenig durchsichtige Art ins Amt kommen. Das ist auch bei der Schweizer Richterstelle in Straßburg nicht anders: Auf welchen Wegen diese Person jeweils ausgewählt wird, ist nicht wirklich transparent», sagt Niggli.

Wo bleiben die Freisinnigen?

Auch wenn Justizministerin Sommaruga und ihre Mitstreiter nicht müde werden, ihr Vertrauen in die direkte Demokratie zu betonen, lassen ihre Argumente gegen die SBI doch das Gegenteil vermuten: Man misstraut dem Volk und sieht die Notwendigkeit, bei Bedarf eingreifen zu können. Für Niggli zeigt sich darin eine klassische sozialistische Haltung: «Die Bevölkerung soll zwar bestimmen dürfen, aber wenn sie nicht richtig bestimmt, dann halten sich die Behörden nicht dran. Nach dem Motto: Wir schützen euch vor euch selber.» Mit dieser erzieherischen Haltung und dem Anspruch, gescheiter zu sein als die Bevölkerung, tue er sich schwer. «Natürlich können Millionen von Leuten einen Fehler machen, doch das gilt ebenso für ein Gremium von ein paar Richtern oder Beamten. Und wenn das Volk einen Unsinn beschließt, dann zahlt es auch selber den Preis.»

Letztlich gehe es bei der SBI um die politische Freiheit. Deshalb verstehe er auch nicht, warum die FDP gegen die SBI sei. «Autonomie und Selbstbestimmung der Bevölkerung sind doch urliberale Anliegen.» Tatsächlich ist die Ablehnung der FDP, deren Basis laut Meinungsumfragen zu einem Gutteil hinter der SBI steht, nicht einsichtig. Dass die Volksmitsprache unter der Internationalisierung des Rechts leidet, weiß man dort seit langem. So hat die FDP-Bundeshausfraktion denn noch 2013 einen Vorstoß zum Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht eingereicht, der um einiges weiterging als die nun von ihr so vehement bekämpfte SBI. Die Freisinnigen forderten damals, dass die Bundesverfassung stets Vorrang habe vor Staatsverträgen wie den Bilateralen, die lediglich dem fakultativen Referendum unterstanden haben. Und sie verlangten ebenfalls, dass ein jüngeres Bundesgesetz einem bereits bestehenden Völkerrechtsvertrag im Konfliktfall vorgehen solle. Von solchen klaren Aussagen ist bei der FDP heute nichts mehr zu hören, der Anti-SVP-Reflex in ihren Reihen scheint zu stark. Und nicht nur dort. «Die Haltung, dass die SBI nicht richtig sein kann, da sie von der falschen Partei kommt, ist doch kein Argument, dem ein eigenständig denkender Mensch folgen kann», findet dagegen Niggli.

Wie geht es weiter, sollte die SBI an der Urne scheitern? Wie wäre ein Nein zur Selbstbestimmung zu interpretieren? «Das würde wohl bedeuten, dass das internationale Recht künftig immer vorgeht, immer. Das könnte durchaus negative Auswirkungen auf den Einzelnen haben», gibt Niggli zu bedenken. Im Strafrecht etwa wäre es möglich, Völkerrechtsabkommen zu schließen, die innerstaatlich nie erlaubt wären – beispielsweise im Bereich der Rechtshilfe, wo Konten blockiert und Leute in Haft genommen werden dürften, sagt der Professor. «International sind bereits heute Dinge zu Lasten der Individuen möglich, die national nie zulässig wären.»

Weltwoche 2018/45

Verfassung auf den Kopf gestellt

«Gleich den Bundesgesetzen müssen sich Staatsverträge des Bundes im Rahmen der Bundesverfassung halten, dürfen also zum Beispiel nicht die Freiheitsrechte beeinträchtigen.» (Prof. Giacometti/Fleiner)

«Die Bundesverfassung, einschließlich der ungeschriebenen Freiheitsrechte, steht in der Normen-Hierarchie auf einer höheren Stufe als die Staatsverträge. Ihr gebührt der Vorrang gegenüber den Staatsverträgen.» (Prof. Häfelin/Haller)

«Wenn der Konflikt zwischen einer neuen Verfassungsbestimmung und dem Völkerrecht nicht verhindert werden kann, geht nach Ansicht des Bundesrats die jüngere Verfassungsbestimmung vor» (Bundesrat 2010)

Erst in den letzten Jahren haben Verwaltung, Bundesrat, Parlament und – seit 2012 – auch das Bundesgericht die Sache auf den Kopf gestellt.

In keinem Staat steht das internationale Recht über der jeweiligen Verfassung.

Alex Schneider, parteilos, auf vimentis 2.11.2018

Carolus Magnus

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