Droge für die Unterschicht
Zwar würde in der Schweiz noch kaum jemand Raucher so offen zu Kriminellen erklären, wie der amerikanische Anti-Tabak-Aktivist Elbert Hubbard es Anfang des 20. Jahrhunderts tat: Hände, die Zigaretten halten, so erklärte der Präventionspriapist, «sind Hände, die deinen Namen fälschen und sich über dem Geld anderer Leute schließen». Aber je mehr das Rauchen zur moralischen Frage wird und je mehr es einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht zugeordnet wird, desto stärker wird diese Schicht als moralisch minderwertig stigmatisiert. Wichtig sei, dass eine Diskriminierung von Rauchern vermieden werde, so appellierte zwar der Gesundheitsexperte Andreas Mielck schon 1994, weil «Diskriminierung in diesem Fall mit einer Diskriminierung von Personen aus der unteren sozialen Schicht gleichbedeutend wäre». Aber eben dieser Diskriminierung leistet die gegenwärtige gesundheitspolitische Debatte mit ihrer untergründigen Moralkomponente Vorschub.
Im Gesundheitsdiskurs gilt die physische Abhängigkeit vom Nikotin als wesentlicher, ja fast ausschließlicher Grund dafür, dass Menschen nicht mit dem Rauchen aufhören. Das Verständnis des Tabaks als Genussmittel, wie es Mitte des 20. Jahrhunderts vorherrschte, ist längst von einer Deutung des Tabaks als Droge, die wie andere Drogen eine Sucht erzeugt, abgelöst worden. Nun führt gerade die Definition der Nikotinsucht, der sich jeder einmal abhängige Raucher nur schwer wieder entledigen kann, paradoxerweise dazu, dass es als Frage der individuellen Willenskraft erscheint, ob es einem gelingt, mit dem Rauchen aufzuhören – und weniger als Frage, inwieweit etwa das gesellschaftliche Umfeld des Rauchers seine «Aufhör-Chancen» beeinflusst, je nachdem, ob darin das Rauchen erwünscht, akzeptiert oder verpönt ist. Die Willenskraft aber ist wiederum an moralische Kategorien gekoppelt: Sie zeugt von Selbstbeherrschung, vernünftigem, planendem Handeln, Verantwortungsbewusstsein und Überlegenheit, während die Willensschwäche für Disziplinlosigkeit, Abhängigkeit, Fremdbestimmung und Liederlichkeit steht. Auch so wird eine moralische Kluft zwischen (überwiegend bürgerlichen) Ex-Rauchern und (überwiegend proletarischen) Immer-noch-Rauchern aufgerissen.
Die Gesundheitspolitik kann aufgrund ihrer Aufklärungsleistung darauf pochen, dass jeder Bürger heute in der Lage ist, vernünftig – sprich: möglichst gesundheitsbewußt – zu handeln. Das heißt aber zugleich, dass Gesundheit mehr und mehr in die Selbstverantwortung des Einzelnen überführt wird, der sich ja für einen «präventiven Lebensstil» entscheiden kann: die Kehrseite des Gouvernantenstaats. Dies wiederum bedeutet «möglicherweise auch die Eigenverantwortung für riskantes oder gesundheitswidriges Verhalten», argumentiert der Bremer Drogenforscher Henning Schmidt-Semisch. «In dieser Logik wird die Selbstschädigung durch das Rauchen zu einer Fremdschädigung des Kollektivs.» Gerade weil eine solche Schädigung mit moralischer Ächtung belegt ist, schwindet die Hemmung, entsprechende ökonomische Konsequenzen daraus zu ziehen, zumal in einem neoliberalen Politikumfeld. «Der Raucher, der Übergewichtige und viele mehr, sie alle werden tendenziell zu Präventionsverweigerern, die ihre unnötigen, weil vermeidbaren Schäden selbst verursacht haben, und damit schließlich zu (Sozial-)Versicherungsbetrügern», argumentiert Schmidt-Semisch.
Gerade das Rauchen ist prädestiniert dafür, glaubt Schmidt-Semisch, als «Einfallstor» für den Ausschluss bestimmter Risikoverhaltensweisen aus dem Leistungsspektrum der gesetzlichen Krankenkassen zu dienen: eben weil das Gesundheitsrisiko des Rauchens so gewaltig ist, weil es wie kaum ein anderes Verhalten als vermeidbar gilt und weil es auch andere gefährdet; aber auch, weil ein solcher Ausschluss eine große Gruppe von Menschen beträfe – etwa zwei Millionen erwachsene Schweizer rauchen – und damit sehr viel Geld gespart (beziehungsweise über Risikoprämien zusätzlich eingenommen) werden könnte. Der Stammtisch ist in dieser Frage schon weiter als die akademische oder politische Debatte: Raucher sollten «gezwungen werden, in eigene Raucher-Krankenkassen transferiert zu werden», fordert ein Privatmann auf seiner Website.
Die Frage ist jedoch, ob der gegenwärtige Gesundheitsdiskurs allein, bei allen Verboten, Warnungen, Verteuerungen und Aufklärungsversuchen, das Rauchen überhaupt wird abschaffen können. Zwar sank der Raucheranteil der Erwachsenen zwischen den siebziger und achtziger Jahren von fünfzig auf rund dreißig Prozent, doch seither hält sich dieser Wert praktisch unverändert. Umfragen unter Jugendlichen lassen vermuten, dass sich daran auch in Zukunft nichts ändert. Die Hälfte aller 14-Jährigen hat bereits einmal geraucht, 25 Prozent der 16-Jährigen konsumieren regelmäßig, und bei den 20-Jährigen sind es gar 35 Prozent. 2003 verglühten in der Schweiz 14,2 Milliarden Zigaretten zu Rauch und Asche, und dabei sind die Selbstgedrehten, Geschmuggelten oder aus dem Duty-free-Shop mitgebrachten noch gar nicht mit einberechnet. Jährlich sterben hierzulande angeblich rund 8300 Menschen an den Folgen des Tabaks, was 14 Prozent der Gesamtmortalität entspricht. Angeblich deshalb, weil niemand weiß, wie die Luftverschmutzung zu berücksichtigen ist.
Statt immer nur auf die Schädlichkeit der Zigarette abzuheben, wäre es vielleicht erfolgreicher, ihre symbolischen Qualitäten ernst zu nehmen – und zwar nicht nur mit dem Ziel, diese umgehend zu entmystifizieren. Aber eine solche Rede über die anderen Bedeutungen des Rauchens lässt der Gesundheitsdiskurs gegenwärtig nicht zu. Stattdessen werden die symbolischen Werte der Zigarette dadurch weggeredet, dass sie ausschließlich auf skrupellos-suggestive Zigarettenwerbung («der Geschmack von Freiheit und Abenteuer») zurückgeführt werden, oder dadurch, dass auf die unterschiedliche Bedeutung von Zigaretten für verschiedene Rauchergruppen und Raucherkulturen verwiesen wird. Die Zigarette an sich, behauptet dieser aufklärerische Impetus, habe keine symbolischen Bedeutungen. Sie sei nichts weiter als ein Suchtmittel.
One thought on “Kreuzzug gegen Raucher IV”