Paternalismus – Philister statt Philosophen
Am Thema Rauchen zeichnen sich dramatische gesellschaftliche Umwälzungen ab. Doch es wird kaum über sie nachgedacht. Die Debatten laufen häufig sehr einfältig ab: Die Nichtraucher pochen auf ihr Recht auf physische Unversehrtheit, das sie durch erzwungenes Passivrauchen verletzt sehen, während die Raucher ihr Recht auf die individuelle Freiheit zur Selbstschädigung einklagen.
Warum aber hat die Gesundheitsdebatte überhaupt gegenwärtig ein so immenses politisches Gewicht erlangt – vor allem beim Thema Rauchen, aber auch bei Themen wie Alkohol, illegalen Drogen, Übergewicht, Umweltgiften oder Schadstoffen in der Nahrung? Welche gesellschaftlichen Folgen hat diese Fokussierung? Und reden wir eigentlich wirklich immer über Gesundheit, wenn wir über die Schädlichkeit des Rauchens reden?
In den USA werden Raucher bereits offen als «gesellschaftliche Abweichler» stigmatisiert, sagt die Historikerin Cassandra Tate, die sich mit der Geschichte der ersten Anti-Zigaretten-Bewegung zu Anfang des 20. Jahrhunderts in Amerika befasst hat. Die Debatte ist dort auch heute wieder aggressiv moralisch aufgeladen, was Tate darauf zurückführt, dass die Vereinigten Staaten «trotz ihrer mythischen Lobpreisung der individuellen Freiheit in vieler Hinsicht ein zutiefst puritanisches Land sind». In einem Volk, das «moralischen und religiösen Eifer demonstriert», sagt der US-Politikwissenschaftler James A. Morone, «tragen die jeweiligen Parteien ihre Glaubensfragen häufig in die Politik. Moralischer Eifer prägte – und prägt – ein ungewöhnlich breites Spektrum politischer Bewegungen», darunter den Kampf gegen den Tabak.
Wie erklärt sich aber, dass die Anti-Raucher-Bewegung auch in anderen Staaten im letzten Jahrzehnt massiv an Boden gewonnen hat? Zunächst einmal dadurch, dass Gesundheit als gesellschaftliches Thema überhaupt auch in Europa wichtiger geworden ist. «Wir haben angefangen, die menschliche Erfahrung durch das Prisma von Gesundheit und Krankheit zu interpretieren», sagt der britische Soziologe Frank Furedi. «Wir pathologisieren menschliches Verhalten, erklären alles zu einer medizinischen Frage.» Der Grund dafür? Uns seien die festen ethischen Kriterien anderer Gesellschaften abhanden gekommen, sagt Furedi, und als «moralische Analphabeten» wüssten wir nicht mehr zu bestimmen, was als richtig und falsch zu gelten habe. Statt gesellschaftliche Vorschriften daher offen mit moralischen Werten zu legitimieren, ersetzen wir diese durch gesundheitliche Argumente. «Gesundheit ist zu einer Methode geworden, mit der wir versuchen, Verhalten zu regulieren und neue Vorstellungen von verantwortlichem oder unverantwortlichem Handeln, von Gut und Schlecht zu entwickeln.» Für diese Rolle eignet sich die Gesundheit hervorragend, weil sie eine enge Beziehung zu unserer individuellen Existenz hat: Wer mit Gesundheit argumentiert, zielt auf unser Eigeninteresse und unseren Überlebensinstinkt. «Darum sind wir wesentlich anfälliger dafür», glaubt Furedi, «gesundheitsbezogene Botschaften zu verinnerlichen als große philosophische oder religiöse Ideen.»
Gesundheitspolitik wird so, gerade im Hinblick auf schädliche Substanzen, zu einer neuen Form von Moralpolitik. «Früher war man ein guter Mensch, wenn man in die Kirche ging, heute ist man einer, wenn man organische Nahrungsmittel kauft, vegetarisch lebt, nicht raucht oder trinkt», sagt Furedi. «Das ist eine sehr philisterhafte Definition dessen, was gut oder schlecht ist.» Während in den USA der Raucher schlicht ein Agent des Bösen ist, gilt er in Europa als eine Mini-Ausgabe einer umweltverschmutzenden Fabrik – und so indirekt als Verkörperung von Verwerflichkeit.
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