Stoßtrupp der Intoleranz
Es genügt, sich nach dem Essen eine Zigarette zwischen die Lippen zu klemmen. Nein, nicht anzünden, einfach ein wenig mit ihr herumspielen, bis die anderen Leute im Restaurant sie registrieren. Ist das schon eine Provokation?
Allein der Umstand, daß diese Frage im 21. Jahrhundert gerechtfertigt erscheint, zeigt, wie sich die Stimmung ins Negative gedreht hat. Mir ist es in den vergangenen Wochen fünf Mal passiert, daß mich Leute energisch auf das Rauchverbot hinwiesen, obwohl ich die Zigarette nicht angezündet hatte. Vier der fünf Mahner waren Rentner. Ich glaube nicht an Zufälle.
Rentner, so erscheint es mir, sind der neue Stoßtrupp der Intoleranz. Natürlich muß ich mich hüten, diese Theorie zu verallgemeinern, und mir ist auch klar, daß ausgerechnet das Rauchen nicht als wasserdichtes Argument dienen kann – aber es soll ja auch nur ein Beispiel sein. Es gibt derer viele.
Der alte Herr, der sich in dem Moment beim Bäcker vordrängelt, als die junge Frau mit ihrer Tochter spricht. «Was soll ich uns denn kaufen?», fragt sie, zum Kind gewandt, und der Rentner nutzt den Augenblick. «Vordrängeln ist nicht», sagt sie zu ihm, doch er schaut geradeaus, als wäre sie Luft.
Oder die Rentnerin, die den Veranstalter eines kleinen Musikfestivals in ihrer Nachbarschaft wegen Lärmbelästigung verklagt. Sie ist die einzige, die sich gestört fühlt, wegen ihr soll das Festival kippen, einmal im Jahr findet es statt, die Stadt hat ihr bereits eine andere Wohnung angeboten – Umzugskosten inklusive – doch sie bleibt stur.
Die vielen Rentner, die regelmäßig beim Ordnungsamt anrufen, wenn Jugendliche in einer kilometerweit entfernten Diskothek am Wochenende die Bässe etwas weiter aufdrehen. Ist es nur ein subjektiver Eindruck, oder schleicht sich die Diktatur der rigiden Alten ein?
Der Komiker Kalle Pohl mag nicht jedem Fernsehzuschauer behagen, doch seine Prognose könnte sich bewahrheiten: «In 50 Jahren sind wir nur noch 58 Millionen Deutsche, und davon 32 Millionen über 60: Dann kommen auf einen Falschparker drei Rentner, die ihn anzeigen.» Der Journalist Jens Jessen mußte jede Menge Prügel einstecken, als er in seinem Videoblog, vielleicht etwas ungeschickt und zugespitzt, diese Atmosphäre der Intoleranz beklagte. Einige Reaktionen zu seinem Videoblog entlarven sich selbst – wie diesen hier: Er «sollte seine Berechtigung, weiterhin als Journalist arbeiten zu dürfen, verlieren. […] Eine Schande für unsere Demokratie».
Vielleicht hat das alles ja nichts mit dem Rauchverbot zu tun. Vielleicht trügt der Eindruck, und die jungen Leute in Deutschland verhalten sich ebenso diffamierend und ignorant.
Aber vielleicht kommt alles auch ganz anders als gedacht. Einen Vorgeschmack auf die mögliche Zukunft lieferte am 6. Januar 2008 ein Vorfall im Hamburger Theater «Winterhuder Fährhaus»: Altbundeskanzler Helmut Schmidt zündete sich eine Zigarette an, der Vorsitzende der Nichtraucherinitiative Wiesbaden, Horst Keiser, erstattete daraufhin Anzeige wegen Körperverletzung bei der Staatsanwaltschaft Hamburg. Helmut Schmidt ist 90, seine Frau 89 und Keiser wird im September 66 Jahre alt.
Bild: Zitat Horst Keiser aus seinem leeren Forum
Der Strafverteidigerblog schreibt über Horst Keiser:
Manchmal muß man feststellen, daß Fanatiker in Deutschland vor Nichts Halt machen und ihnen der geringste Respekt fehlt. Da erstattet der Vorsitzende einer Nichtraucherinitiative in Wiesbaden Horst Keiser Strafanzeige gegen Altbundeskanzler Helmut Schmidt und seine Ehefrau Loki. Grund: Bei einem Neujahrsempfang in einem Hamburger Theater haben die beiden es gewagt, mit Erlaubnis des Intendanten eine Zigarette zu rauchen. Hierin sehen die Nichtraucher aus Wiesbaden eine Körperverletzung. Und weil der Intendant des Theaters einen Aschenbecher zur Verfügung gestellt hat, wird er gleich wegen Beihilfe zur Körperverletzung mit angezeigt.
Unklar ist wessen Körper überhaupt verletzt worden sein soll. Der des Anzeigeerstatter in Wiesbaden jedenfalls nicht. Den anderen Gästen hat das wohl wenig bis gar nichts ausgemacht, außer daß vielleicht der ein oder andere sich gerne auch eine Zigarette angezündet hätte. Rechtlich dürfte dies als Einwilligung zu werten sein. Der Vorsitzende der Initiative und Träger des Bundesverdienstkreuzes Horst Keiser sagte gegenüber dem Hamburger Abendblatt: “Die beiden rauchen immer rücksichtslos im Beisein Unbeteiligter”. Hier muß sich Herr Keiser aber sagen lassen: Das darf man. Wegen Einwilligung. Ein ganzen Abend mit dem qualmenden Exbundeskanzler Helmut Schmidt nähmen sicherlich mehr Leute lieber wahr, als mit einem fanatischen nichtrauchenden Weltverbesserer auch nur ein Viertelstündchen zu verbringen.Der Hamburger Oberstaatsanwalt Bagger hat die Strafanzeige gegenüber “Bild” mit Worten kommentiert:” „In unserem Rechtsstaat kann jeder jeden anzeigen. Dieser Fall ist ein eindrucksvoller Beweis dafür, mit welchen Sachen sich eine Staatsanwaltschaft beschäftigen muß.“ Man kann nur hoffen, daß die Staatsanwaltschaft Hamburg das Verfahren schleunigst wieder einstellt. Mangels Vorliegen einer Straftat.
Ich meine: Ein Träger des Bundesverdienstkreuzes darf keine offenbar unsinnigen Strafanzeigen gegen Personen des öffentlichen Lebens erstatten. § 4 des Ordensgesetzes der Bundesrepublik Deutschland sieht nämlich vor, daß ein Verdienstorden wieder entzogen werden kann, wenn der Ordensträger unwürdiges Verhalten zeigt. Die Strafanzeige gegen die Eheleute Helmut und Loki Schmidt zeigt mehr als unwürdiges Verhalten.
Vielleicht werden schon bald die Rentner einander mit allen Rechtsmitteln bekriegen, bis ihnen der Spaß am Leben vollends vergeht. Die Prohibitionsbemühungen von Lebensfreude und Genußmittel lassen dies bereits erkennen.
Der Chef des Zeit-Feuilletons Jens Jessen gibt in diesem Videokommentar dem Rentner, der in München schwerste Kopfverletzungen erlitten hat, eine Mitschuld am Geschehen. Video Jens Jessen über Intoleranz
ERSATZ-VIDEO 02.06.2024 – Wo endet deine Toleranz – Richard David Precht ist Philosoph, Autor und Podcaster. Er hat bereits Bücher über die Liebe, über Moral, das Recht der Tiere, künstliche Intelligenz, die Zukunft der Arbeit und die Geschichte der Philosophie geschrieben. Gerade erschien sein Essay “Das Jahrhundert der Toleranz”, in dem er sich damit auseinandersetzt, wie der Umgang mit den aktuellen und zukünftigen globalen, gesellschaftspolitischen Entwicklungen und Konflikten unsere Weltordnung prägen wird. Richard steht immer wieder aufgrund verschiedener Äußerungen in der Kritik und in den letzten zwei Jahren, seit er das erste Mal im Hotel Matze zu Gast war, ist viel passiert. Die folgenden zwei Stunden werden sehr politisch. Einige Themen haben Richard offenbar regelrecht auf der Seele gebrannt – es geht um Werte und Toleranz, wir sprechen über seine Entfremdung gegenüber den Grünen, seinen Blick auf die AfD, Putin, Trump und die Frage, warum es überhaupt Kriege gibt. Außerdem blicken wir auf Utopien, den Stellenwert der Philosophie in der heutigen Zeit, auf Freundschaften, Alterserscheinungen und zu guter Letzt auch auf das Thema Schönheit.
Hi!
Ich gehöre ja nun auch schon zu den etwas «älteren» Jahrgängen. Deswegen halte ich das Statement für etwas einseitig. Alte sind «unbeliebt». Sie sind nicht mehr die «Leistungsträger» der Gesellschaft. Verfallen wir nicht dem Jugendkult! Denn Junge sind in gleicher Zahl ebenso intolerant, ohne Unrechtsbewußtsein. Derweil die Alten die Jungen wegen einer Zigarette in der U-Bahn anmachen, klauen die Jungen urheberrechtlich geschützte Werke ohne Skrupel kreuz und quer durchs Internet. Beispielsweise.
In den Medien ist es leider «en vogue» unisono gegen die Alten zu polemisieren.
Bei dem Beispiel mit dem Herrn Keiser vergessen wir doch bitte nicht, dass der, verglichen mit den Schmidts geradezu ein Teenager ist!
Das Problem ist, ob jung oder alt (!): die Intoleranz, die Lust zur Bevormundung, die Ausübung von Gewalt ist dort ausgeprägt, wo das geringste Bildungsniveau herrscht.
Dort, wo die Akteure in ihrem Suppenteller sitzen, nach oben gucken und denken, der Tellerrand sei der Horizont. Und das ist altersunabhängig.
Zugegeben, wer zeitlebens einer war, für den nur die eigene verbohrte Meinung zählte, der wird bestimmt mit zunehmendem Alter noch verbohrter. Ein gewisses Maß an Alterstarrsinn gibt es sicher. Ganz sicher auch forciert, wenn man sich nicht darum bemüht «helle» zu bleiben.
Aber, wie gesagt, es gibt genügend Junge, die sind auch alles andere als helle.
Gruß
Franz