5. IV-Revision der SVP
Am 17. Juni stimmt das Volk über die 5. Revision der Invalidenversicherung ab. Das stark defizitäre Versicherungswerk ist dringend sanierungsbedürftig, seitdem der Bund Ende der 1980er Jahre alle seine «faulen Eier» dort endgelagert hat und damit die IV maßlos überstrapazierte, zulasten der weniger privilegierten Normal-Bürger, die keinen Schoggi-Job in der Verwaltung haben. Höchst umstritten sind die vorgesehenen Maßnahmen. Davon betroffen sind auch viele psychisch kranke Menschen. Die Zahl der IV-Bezüger aus psychischen Gründen ist im Vergleich zu den Bezügern mit einer körperlichen Behinderung in den letzten Jahren überproportional angestiegen. Ein Ende dieses Anstieges ist nicht in Sicht und die Schweiz belegt weltweit die vordersten Ränge.
Eine Stellungnahme
Infos: Schweizerische Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP)» Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP)
zusammen mit der
Schweizerischen Vereinigung psychiatrischer Chefärzte (SVPC).
Einstehen für psychisch kranke Menschen
Wir als PsychiaterInnen treten für die Anliegen von psychisch kranken und behinderten Menschen ein. Sie sind besonders verletzlich und werden häufig ausgegrenzt. Da sie keine Lobby haben, die für sie einsteht, treffen Sparmaßnahmen diese besonders hart. Instabilität gehört zu ihrem Krankheitsbild und ihr Leiden lässt sich nicht durch Röntgenbilder oder Laborwerte belegen. Dies alles erschwert die Möglichkeiten psychisch kranker Menschen, sich für ihre Rechte einzusetzen. Das in der 5. IVG-Revision gezeichnete Behindertenbild entspricht vorwiegend körperlich erkrankten Menschen und kaum dem von psychisch Kranken.
Kostenopfer zu Lasten psychisch Kranker
Die spezielle Situation psychisch kranker Menschen verpflichtet die SGPP und die SVPC, bei der vorliegenden IVG-Revisions-Vorlage vor allem die Aspekte psychisch behinderter Menschen zu beleuchten. Handelt es sich doch eigentlich um eine Art «lex psychiatrica», in der primär den psychisch Behinderten ein Kostenopfer abverlangt wird.
Das zeigen auch die Folgen der 4. IVG-Revision, die bereits zu willkürlichen Verweigerungen von Renten für psychisch behinderte Menschen geführt haben.
Eingliederung vor Rente – Ja zur Früh-Reintegration
Die SGPP und die SVPC begrüßen alle Maßnahmen, die zu einer Integration von psychisch kranken Menschen in die Arbeitswelt beitragen. Der Grundsatz ?Eingliederung vor Rente? besteht bereits seit der Gründung der IV. Er wäre mit echtem Willen bereits bis anhin umsetzbar gewesen. Damit eine Reintegration von psychisch Kranken möglich ist, braucht es aber auch entsprechend gestaltete Arbeitsplätze und kooperationswillige Arbeitgeber. Die diskriminierenden Äußerungen über psychisch Kranke in der aktuellen IV-Diskussion lassen aber kaum hoffen.
Instabilität psychisch Kranker
Dass die vorgeschlagene Gesetzes-Revision mit den Aspekten der Früherfassung und Frühintervention durchaus positive Aspekte hat, würdigen auch die SGPP und die SVPC. Psychisch kranke Menschen sind aber aufgrund ihres spezifischen Behinderungsprofils nicht in der Lage, zeitlich befristete Integrationsmaßnahmen zu nutzen. Das besondere Merkmal der psychischen Behinderung, die Instabilität, kann also die vorgeschlagenen Maßnahmen blockieren und führt schlussendlich dazu, dass dem psychisch Kranken die Schuld zugeschoben wird, wenn die Integrationsmaßnahmen fehlschlagen.
Mitwirkungspflicht – Fallstrick für psychisch Behinderte
Ein weiteres Problem ist die sogenannte Mitwirkungspflicht (vulgo «Nötigung») der Behinderten, ohne dass übrigens auch nur annähernd Gleiches von der Arbeitgeberseite eingefordert wird. Psychische Behinderungen gehen häufig mit einer Verminderung oder Schwankungen in der Mitwirkungsfähigkeit einher. Unklar definierte Zumutbarkeit und eingeschränkte Mitwirkungsfähigkeit können bei psychisch Behinderten rasch dazu führen, dass ihnen vorgeworfen wird, sie hätten keinen Willen und seien selber schuld, wenn eine Reintegration in den Arbeitsmarkt nicht gelingt. Eine Verweigerung von IV-Leistungen erhält so den Aspekt einer Strafe.
Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient belastet
Ganz zentral ist gerade bei psychischen Erkrankungen das Vertrauensverhältnis zwischen dem Arzt und der Patientin/dem Patienten. Die im Gesetzesvorschlag enthaltene Klausel, dass der Arzt bereits nach einer vierwöchigen Erkrankung der IV Meldung machen kann, dies auch gegen den Willen des Patienten, widerspricht diesem wichtigen Aspekt in krasser Weise. Dieser Passus kann die Behandlung nachteilig beeinflussen oder einen Patienten sogar davon abhalten, sich rechtzeitig psychiatrische Hilfe zu holen. Der Erfolg einer Reintegration ist aber nur bei einem intakten Vertrauensverhältnis möglich. Eine weitere Aufweichung des Arztgeheimnisses ist aus unserer Sicht nicht akzeptabel.
Rolle der Psychiater als Gutachter
Schon bisher mussten Psychiater in Gutachten für die IV die Arbeitsfähigkeit und die Erfolgschancen von Eingliederungsmaßnahmen beurteilen. Mit der starken Betonung der Mitwirkungspflicht, müssen sie sich neu zur Mitwirkungsfähigkeit äußern, damit psychisch Behinderten nicht ungerechtfertigt Leistungen verweigert werden. Den PsychiaterInnen fällt damit die undankbare Aufgabe zu, die Schwächen der 5. IVG-Revision auszugleichen und sich im Interesse ihrer psychisch behinderten PatientInnen dafür einzusetzen, dass die IV das macht, wofür sie da ist: Arbeitsunfähigen Menschen mit einer Rente das Überleben finanziell zu sichern.
Fazit
Aufgrund dieser Erwägungen fühlen sich viele Psychiater den in der Gesellschaft immer noch stark diskriminierten psychisch kranken Menschen anwaltschaftlich verpflichtet und weisen auf die negativen Aspekte der Vorlage hin, über die am 17. Juni abgestimmt wird.
Die psychiatrischen Fachgesellschaften möchten mit diesem Argumentarium auf die kritischen Punkte der Revision hinweisen. Die stark verschuldete IV kann aber nur mit einer Zusatzfinanzierung saniert werden. Im Falle einer Annahme der 5. IVG-Revision muss diese unverzüglich an die Hand genommen werden.
Bern, im Mai 2007
für die SGPP Dr. med. Hans Kurt, Präsident
für die SVPC Dr. med. Gerhard Ebner
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Ein Etikettenschwindel
Alle wichtigen Behindertenorganisationen fänden die 5. IV- Revision schlecht, sagte Barbara Marti, Zentralsekretärin der Behinderten-Selbsthilfe Schweiz AGILE, am Freitag vor den Medien in Bern. Die Gesetzesvorlage sei ein Etikettenschwindel und diskriminiere Menschen mit Behinderungen.
Dem Stimmvolk werde mit dem Motto “Arbeit geht vor Rente” vorgegaukelt, es könnten mehr Behinderte in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden. Doch würden die Arbeitgeber zu nichts verpflichtet. Die Probleme der IV würden einzig in die Sozialhilfe verschoben, sagte die Grüne Zürcher Stadträtin Monika Stocker.
Wer “Eingliederung vor Rente” wolle, der müsse zuerst einmal investieren, sagte Stocker: in Ausbildung, Fortbildung und in soziale Betriebe. Denn der Arbeitsmarkt des 21. Jahrhunderts grenze die Kranken und Teilleistungsfähigen “gnadenlos” aus. Bei der IV- Revision habe “Bern” schlicht die Hausaufgaben nicht gemacht.
Schweiz: Verschärfte Rechtssprechung zur Invalidenrente bei depressiver Erkrankung
Eine Standortbestimmung aus medizinischer Sicht
Hintergrund
Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung von 2017 sollen Depressionen nur dann als „invalidisierende“ gesundheitliche Beeinträchtigung befundet werden, wenn alle Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft sind. Ein Anspruch auf Invalidenrente (IV-Rente) kann demnach nur dann abgeleitet werden, wenn die psychische Erkrankung als «therapieresistent» eingeschätzt wird. Die betroffenen Menschen müssen diesen Beweis selbst erbringen, bevor sie eine IV-Rente erhalten. Zudem legt das Bundesgericht dar, dass es sich hierbei um seltene Konstellationen handelt, wenn bei Depressionen mit leichter oder mittelschwerer Ausprägung eine «Therapieresistenz» bestehe.
Der Nachweis von «Therapieresistenz» ist jedoch gerade bei psychischen Erkrankungen sehr schwer zu erbringen – auch weil sich unterschiedliche therapeutische Interventionen über Jahre und Jahrzehnte erstrecken können und nicht immer zu den erstattungsfähigen Krankenkassenleistungen gehören. Für depressive Menschen, die ihrer Arbeit nicht mehr oder nur noch eingeschränkt nachgehen können, ist diese Situation problematisch. In der Schweiz sind episodisch wiederkehrende depressive Störungen sehr häufige psychische Erkrankungen. In der Praxis erhalten Menschen mit mittelschweren Depressionen hier offenbar kaum mehr Unterstützung durch die schweizerische Invalidenversicherung. – Bitte lesen Sie weiter…